Jakob überlegte, wie es nun weitergehen sollte.
In die Schule würde er heute auf keinen Fall gehen. Den Spott seiner Schulkameraden konnte er schon hören.
Aber irgendetwas musste er unternehmen. Nur was?
Wie sollte er denn überhaupt auf die Straße gehen? Es war ja nicht Karneval.
Arzt!! Bestimmt konnte ihm ein Arzt helfen!
Jakob verschluckte sich beinahe vor Erleichterung, als ihm diese Idee kam. Schnell lief er zum Telefonbuch und sah bei „Ä“ wie „Ärzte“ nach.
Dabei kam ihm plötzlich ein anderer Gedanke. Er würde lieber gleich in eine Apotheke gehen und dort fragen, ob es ein Mittel gegen Hautverfärbungen gäbe. Tabletten oder Tropfen oder so etwas.
Gut, das war beschlossen!
Nur wie sollte er dort hinkommen, wenn ihn auf der Straße alle Leute anstarrten? Das hatte er noch nie leiden können.
Aber nun musste er raus und in die Apotheke. Unbedingt!
Jakob überlegte und überlegte, bis ihm einfiel, wie er es schaffen könnte. Er würde sich einen dicken Verband um den Kopf wickeln und zwar so, dass nur kleine Sehschlitze frei blieben und dann die Kapuze seines Anoraks weit ins Gesicht ziehen.
Gesagt, getan!
Als Jakob mit seiner Maskerade fertig war, sah er aus wie ein Junge mit schweren Kopfverletzungen, aber niemand konnte auch nur ein Fitzelchen von der grünen Farbe sehen.
Jakob verließ die Wohnung.
Vorher hatte er lange gelauscht, ob Schritte im Treppenhaus zu hören waren, aber alles war still. Lautlos hastete er die Treppe hinunter. Er öffnete vorsichtig die Eingangstür und verließ eilig das Haus.
Die wenigen Leute, denen er auf der Straße begegnete, beachteten ihn gar nicht oder sie hoben kurz den Kopf und schauten dann verlegen weg. Jakob war das nur recht. Schnurstracks lief er zu der alten Apotheke, die ein paar Häuserecken weiter in einer ruhigen Seitenstraße zu finden war. Er blickte in das Schaufenster.
Es war nicht wie bei anderen Apotheken mit bunten Schachteln, Cremetöpfen und Reklametafeln gefüllt.
Nur ein einziges, bauchiges Gefäß aus Glas stand auf einem rotschwarzen, samtenen Podest. Es glich einer riesigen, altmodischen Blumenvase. Darin schwamm etwas Seltsames in einer grünlichen Flüssigkeit...
Jakob presste sein vermummtes Gesicht an die Scheibe, konnte aber nicht erkennen, was es war.
Energisch drückte er die Tür der geheimnisvollen Apotheke auf.
Erschrocken zuckte er zusammen. Über seinem Kopf erhob sich ein Geklingel und Gebimmel von unzähligen Glöckchen, die durch einen unsichtbaren Mechanismus beim Öffnen der Tür in Bewegung versetzt worden waren.
Als Nächstes huschte wie ein schwarzer Schatten eine Katze durch den düsteren Raum und sprang mit einem Satz auf Jakobs Schulter.
Bevor er sich von diesem Schrecken erholen konnte, hörte er es aus dem Hintergrund krächzen: „Guten Abend, guten Morgen, guten Tag, gute Nacht, dass es kracht!“
Ängstlich duckte sich Jakob und wollte sich unauffällig wieder rückwärts aus der Tür schieben, da sagte eine freundliche Stimme: „Komm ruhig näher, mein Junge. Keine Angst, du bist hier willkommen, ich habe dich schon erwartet. Gestatten Tibaldi, Dottore Tibaldi, und diese ungehobelte Begrüßung kommt von Leo, meinem Papagei. Er kann einfach nicht begreifen, dass er mit seiner Stimme meine Kunden verschreckt. Aber eigentlich ist er ein freundlicher Geselle und mir ein guter Kamerad.“
Und so machte Jakob zögernd ein paar Schritte nach vorn
die schwarze Katze auf seiner Schulter, während Papagei Leo ihn umflatterte und aus Leibeskräften schrie: „Angsthase, Pfeffernase, Angsthase, Pfeffernase...!“
Als sich seine Augen in dem dämmerigen Raum zurechtfanden, erblickte er eine kleine Gestalt mit runder Nickelbrille und weißem Bart. Der Mann blinzelte ihm freundlich zu. „Nur keine Angst! Hier tut dir niemand etwas zuleide, im Gegenteil. Hier gibt es gegen jedes Übel ein Wässerchen. Wollen uns die Sache mal genauer ansehen.“
Mit flinken Fingern wickelte Dottore Tibaldi den Verband von Jakobs Gesicht. Auch der Papagei beteiligte sich an der Aktion. Er zerrte mit seinem Schnabel am losen Ende des Verbandes. Jakob stand steif und wie angeklebt auf seinem Platz.
„Aha, mhm, soso... Das ist freilich eine sehr unangenehme Sache“, murmelte Dottore Tibaldi in seinen Bart, als die grüne Farbe in Jakobs Gesicht zum Vorschein kam.
„Mal sehen, was wir da tun können. Ganz einfach wird die Kur nicht, das muss ich dir leider sagen.“
Jakob spürte einen dicken Kloß im Hals. Er schluckte ein paar Mal, um nicht loszuheulen und Leo schrie vergnügt: „Grüngesicht, Grüngesicht!“
„Sei jetzt still!“, donnerte der Apotheker mit erstaunlich energischer Stimme. „Ich muss nachdenken. Ein schwieriger Fall... grün... woher kommt das nur... sicher nicht nur äußerlich...“
Er wandte sich einem hohen, verschnörkelten Glasschrank zu, in dem Dutzende von Tiegeln, Fläschchen in allen Größen und dicke, ledergebundene Bücher standen.
Dottore Tibaldi zog aus der Tasche seines weißen Apothekerkittels eine zweite Brille. Diese hatte doppelt so große Gläser wie die Brille, die er bereits auf der Nase hatte...